Kreizeitung: Zurück aus einer anderen Welt

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Letzter Quartalsbericht

Wo war ich eigentlich heute vor drei Monaten? Ich war in Bari. Und in Bari gab es keine einzige Toilette und ich habe im Reisfeld geduscht. Und jetzt bin ich nach einem Jahr Indien plötzlich wieder in Deutschland. Es ein bisschen seltsam wieder hier zu sein und die ganze Zeit in Indien wirkt fast wie ein großer Traum. Denn die beiden Welten sind ja so unterschiedlich und haben oft so wenig miteinander zu tun. Aber anlässlich des letzten Quartalsberichts tauche ich noch einmal in die Traumwelt Indien ein, die in den letzten drei Monaten zu meinem Zuhause geworden war.

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Und das Dorf Bari war noch viel mehr eine Traumwelt als der Rest von Indien. Vor 70 Jahren stand hier nämlich noch nicht einmal ein richtiges Dorf. Hier sei nur Urwald gewesen und nachts seien Tiger um die primitiven kleinen Häuser gestreift. Außerdem erzählte mir ein zahnloser alter Mann, dass es damals nur zwei Felder gab und man sich einfach von dem ernährt hat, was man im Wald gefunden habe. Verrückt!

Jetzt ist das Dorf von vielen Feldern umgeben und einen Tiger hat lange niemand mehr gesehen. Im Dorf stehen Steinhäuser im mehreren Reihen und auf den Dächern glitzern Solarmodule in der Sonne, weil die Regierung in dieses entlegene Dorf derzeit noch keine Stromleitung legen kann. So hat dieses Dorf halt Solarenergie. Wie fortschrittlich ist das denn? Und seit einigen Jahren sind auch alle Kinder des Dorfes an einer Schule angemeldet. Aber das Küchenfeuer wird immer noch mit Holz gemacht, wobei ich nicht weiß, wie man diese kleinen verrauchten Räume als Küche bezeichnen kann. Das Essen hatte also auch eine rauchige Note. Und abends kauern sich ein paar Männer eng zusammen und gucken einen Bollywood Film auf einem Smartphone. Einen Fernseher gibt es im Dorf nämlich auch nicht.

Man muss sich mal vor Augen führen, dass ich ja schon in einem der ärmsten Bezirke in einem der ärmsten Bundesstaaten Indiens war. Und Bari war noch einmal ein bisschen krasser als das, was ich sonst so gesehen habe. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass in diesem Dorf fast jeder unter der Armutsgrenze lebt. Aber irgendwie hatte ich mir Armut immer anders vorgestellt. Irgendwie unmittelbarer. Denn auf den ersten Blick schien es den Leuten dort ja ganz gut zu gehen. Niemand war auch nur irgendwie am Verhungern oder in Lebensgefahr…

Aber den Leuten in Bari fehlen einfach die Sicherheiten und Möglichkeiten, die wir in Deutschland haben. Wenn jemand aus der Familie krank wird, eine Ernte ausfällt, es in dieser kleinen verrußten Küche anfängt zu brennen oder sonst irgendetwas passiert, dann stehen die Leute in Bari nicht nur vor riesigen Problemen, sondern auch vor Ihrer eigenen Existenz. Vielleicht geht es ihnen jetzt ja auf eine naturromantische Weise gut, aber das kann sich auch ganz schnell wieder ändern.

Auf dem Rückweg hatte ich dann das Gefühl jetzt wirklich auch die hinterste Ecke Indiens gesehen zu haben. Wir fuhren mit einem Auto, das es in Deutschland schon seit Jahren nicht mehr durch den TÜV geschafft hätte, durch wunderbare Natur. Im Auto waren ca. 16 Inder und Inder Kinder. Oben drauf noch einmal sechs oder sieben. Auf der Motorhaube saß auch noch einer. Ich saß natürlich oben auf dem Dach. Und ich dachte mir, dass wenn ich mich mal aus irgendeinem Grund vor Interpol verstecken muss, dann werde ich hierher kommen. Aber pscht! Nicht verraten…

Und diese zwei Tage in Bari waren für mich nicht nur der Start in das letzte Quartal in Indien, sondern auch eines der beeindrucktesten Erlebnisse des Jahres. Denn nachdem ich in diesem kleinen Dorf gewesen bin, kann ich das alles, was ich hier in Deutschland habe, ganz anders wertschätzen. Und ich bin mir sicher, dass ich mich noch häufig an diesen Platz erinnern werde.

Nach den zwei Tagen in Bari starteten wir dann in einen zweiwöchigen Urlaub, um auch einmal den Rest von Indien zu erkunden. Und so erlebten wir den Anfang vom Monsun in der Süßigkeitenhauptstadt Kalkutta. Wir tranken Tee in Darjeeling am Himalaya. Wir fuhren mit dem Boot über den heiligen Ganges, während wir die Totenfeuer am Ufer beobachteten. Und wir holten uns einen Sonnenbrand in einem Wasserrutschen-Park in Raipur.

Und dann ging eine Zeit los, die ein bisschen anders war als der Rest des Jahres. Denn ganz nach indischer Art war mein Programm in Indien ohnehin nur für neun Monate geplant, obwohl ich ja zwölf Monate in Indien war. Dann kamen auch noch die Sommerferien, in denen ja auch nicht viel ging, weil man die meiste Zeit damit verbachte, mehr zu trinken als zu schwitzen. Und das ist nicht gerade einfach bei über 40 Grad!

Mittlerweile lebte ich zusammen mit einem anderen Freiwilligen aus Deutschland in Jeypore. Und hier hatten wir ehrlich gesagt nicht viel zu tun. Von indischer Seite kam eh nicht viel. Und wir konnten also machen, was wir wollten. Und so gestalteten wir dann auch die letzten drei Monate in Indien zum Großteil selber.

Im Nachhinein wäre es wahrscheinlich noch nicht einmal wirklich ein Problem gewesen, hätten wir nur das Nötigste gemacht und ansonsten einfach in den Tag hinein gelebt. Man hört nämlich tatsächlich sehr oft, dass es Freiwillige gibt, die ins Ausland gehen und dort keine richtige Arbeit machen und sich langweilen. Irgendwie passiert das immer wieder. Aber einfach gar nichts zu machen, war für mich nie eine Alternative. Und so machten wir uns einen Plan für die Zeit.

Die letzten zwei Wochen wollten wir uns frei nehmen, um zu packen und uns von allen zu verabschieden. So blieben uns gut 50 Tage, in denen wir von offizieller Seite nichts weiter zu tun hatten, als bei der Auswahl und Vorbereitung von indischen Jugendlichen zu helfen, die an einem Austauschprogramm mit einer deutschen Gruppe teilnehmen sollten. Während immer einer von uns bei dem Auswahlgespräch half, war der andere oben in unserer Küche und backte mit den restlichen Bewerbern deutsches Brot. Am Vorbereitungstag hielten wir dann noch einen kurzen Vortrag über Deutschland und die kulturellen Unterschiede zu Indien. Wir bereiteten die Jugendlichen zum Beispiel darauf vor, dass die Deutschen gar nicht so böse sind, wie sie immer gucken und dass es in Deutschland ganz andere Vorstellungen von Privatsphäre und Offenheit gibt. Außerdem sollten wir noch einen Bericht über die verschiedenen Kulturen im Bereich unseres Einsatzortes schreiben. Das war aber tatsächlich schon alles, was wir von offizieller Seite für die 50 Tage an Aufgaben bekamen. Die Auswahl und Vorbereitung der Freiwilligen und der Bericht summierte sich vielleicht zu vier oder fünf effektiven Arbeitstagen nach indischem Maßstab. In deutschen Maßstäben wäre es vielleicht ein Arbeitsaufwand von maximal zwei Tagen gewesen. Es galt also noch viel Zeit zu füllen.

Zum Glück waren wir Anfang Juni noch zu einer internationalen Konferenz eingeladen, bei der wir interessante Leute aus Ghana, Süd-Korea, Indonesien, Südafrika und dem Libanon trafen. Wir hatten zum Beispiel ein sehr interessantes Seminar rund um das Thema Handys. Die Südkoreaner konnten über die Samsung Produktion im eigenen Land aus dem Nähkästchen plaudern. Die Ghanaer konnten berichten, dass in ihrem Land aus vielen alten technischen Geräten unter Einsatz giftiger Chemikalien, seltene Erden und Metalle herausgeholt werden. Und die Libanesen konnten dann noch erzählen, dass sie monatlich umgerechnet fast 70€ für Handygebühren bezahlen müssen und durch die kulturelle Vielfalt ergaben sich auch in unserer Freizeit und beim Essen immer wieder tolle Gespräche. Schade war nur zu hören, dass die meisten Jugendlichen langfristig ihr Land verlassen wollten, um nach Europa oder Nordamerika zu gehen, während ich mich schon langsam freute, bald wieder nach Hause zu kommen.

Zurück in Jeypore ging dann unser selbst erdachtes Programm los. Wir sammelten weiterhin regelmäßig Müll mit den Jungs aus der Nachbarschaft, wir organisierten Mangobäume und bepflanzten damit den Kirchencampus. Aber wir waren ja in Indien, wo niemand die Kühe einzäunen wollte und so mussten wir die Bäume einzäunen, um sie vor den gefräßigen Kühen zu schützen. Nach unseren oft arbeitsintensiven Aktionen spielten wir häufig noch Frisbee oder Diabolo mit den Jungs oder belohnten uns mit ein paar Snacks. Dazu muss man sagen, dass die Jungs zwischen acht und 14 Jahre alt waren. Trotzdem bauten wir schnell eine relativ enge Beziehung zu den Jungs auf und wir waren fast jeden Tag ihr Nachmittagsprogramm.

Außerdem sind wir auch einmal in ein Dorf gefahren und verbrachten dort eine Zeit lang mit den Kindern und Jugendlichen aus einem Kinderhilfscenter. An zwei Tagen waren wir auch noch in einem Behindertenheim und hatten dort eine wirklich witzige Zeit. Unsere Frisbee und zwei Diabolos hatten wir immer dabei und so spielten wir einfach sportlich mit den Kindern und machten Späße mit denen, die nicht so gut zu Fuße waren. Denn normalerweise haben die Kinder wirklich einen sehr tristen Alltag. Das Personal ist knapp, die Eltern kommen selten oder vereinzelt auch nie zu Besuch und es gibt abgesehen von einem alten Fernseher und ein paar Stunden Schule am Morgen kein richtiges Programm für die Kleinen. Die Zeit war zwar anstrengend, aber irgendwie gut.

Unser größtes Projekt neben den ganzen gepflanzten Bäumen war dann ein Seminar über Terrorismus, das wir gemeinsam mit einem Freund organisierten. In der Nähe von Jeypore gibt es ja auch maoistische Terroristen und im Norden von Indien in der Region Kaschmir ist Terrorismus auch ein großes Problem. Dazu kommen noch die internationalen Bedrohungen durch Terror. Leider wussten die meisten Jugendlichen bei uns nicht viel über dieses Thema und es bildeten sich immer wieder gefährliche Vorurteile besonders gegen Moslems heraus.

Es erstaunte mich dann zu sehen, dass für viele die Information, dass nicht jeder Terrorist Moslem ist, völlig neu war. Wir hatten auch Freunde aus anderen Religionen eingeladen und so entstand irgendwann eine ziemlich gute Diskussion, bei der viele Dinge offen angesprochen und diskutiert wurden. Und im Nachhinein waren wir uns einig, dass das Programm ein voller Erfolg war und irgendwie hatten wir alle etwas gelernt.

Neben unseren vielen kleinen Projekten spielte ich auch noch  Fußball, wir lasen viel, trafen uns mit Freunden und sammelten Rezepte aus der indischen Küche. Und so verging die Zeit schnell und dann starteten wir auch schon in die letzten beiden Wochen. Ich fuhr noch ein letztes Mal nach Nabarangpur und verabschiedete mich dort von meiner ersten Einsatzstelle und allen Menschen, dann ging es für ein paar Tage nach Doliambo und ich verabschiedete mich dort von allen. Überall gab es viel zu Essen und ein paar kleine Geschenke. So sollte es dann auch in Jeypore weiter gehen. Jeden Tag waren wir irgendwo zum Essen eingeladen. Mein Magen war für die letzte Woche wirklich dauerhaft voll und trotzdem sollte ich immer noch mehr essen. Aber das zeichnet ja auch das sehr gastfreundliche Indien aus.

Während wir uns langsam von allen Menschen, die uns auf unserem Weg durch Indien begleitet haben, verabschieden wollten, kamen die Inder erst am allerletzten Tag auf die Idee, noch einmal vorbei zu kommen. Am letzten Tag waren wir also für keine einzige Sekunde mal alleine. Besonders die Jungs, mit denen wir immer gespielt hatten, lagerten den ganzen Tag in Wechselschichten vor unserem Haus. Und es gab noch einmal viele kleine Geschenke, Briefe und eine Wanduhr. Wer kommt bitte auf die Idee, mir kurz bevor ich fahre noch eine Wanduhr zu schenken? Inder! Außer einem Fahrrad gibt es wenige Dinge, die nicht noch schlechter spontan in mein Gepäck gepasst hätten als diese Plastikwanduhr. Deshalb habe ich mein Fahrrad auch noch schnell an meinen Friseur verkauft. Aber natürlich habe ich die Wanduhr auch noch irgendwie in meinem Gepäck untergebracht.

Und dann mussten wir Jeypore, Orissa und Indien auch schon wieder verlassen. Nach einem Jahr konnte ich schon ziemlich gut Oriya sprechen und mich mit Leuten unterhalten. Ich habe viele Freunde gefunden. Ich hatte gute und schlechte Zeiten. Aber mehr gute! Ich bin in diesem Jahr ein paar Mal krank geworden. Ich habe mit der Hand gegessen, Kühen die Vorfahrt gewährt und angefangen, mit dem Kopf zu wackeln. Ich war also mehr als nur ein bisschen indisch geworden. Ich hatte ein Jahr, dass ich nie vergessen werde und das mich unglaublich geprägt hat. Und während ein Teil von mir in Indien bleiben wird, habe ich einen Teil von Indien mit nach Deutschland genommen.

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